Twitterpräsidentschaften, Servermächte und AGB-Unterwürfigkeit
Dem US-Präsident wurden nach dem Sturm des Capitols in Washington D.C. Zugänge für die größten SocMe [SocialMedia]-Netzwerke der westlichen Welt gesperrt. Nun entspinnt sich eine Diskussion um die Meinungsfreiheit, da Parler, ein von Rechten gerne genutzter SocMe-Dienst, auf der Planung der Stürmung öffentlich stattfanden, von den großen westlichen Technologiekonzernen verbannt wurde. Und Facebook möchte mehr Unterwerfung von den WhatsApp-Nutzer:innen.
In den vergangenen Tagen schauten viele geschockt auf die Vorgänge in den USA. Auf einen Präsidenten, der die Menschen, die er nach Washington D.C. rief, um sie dort zu einem „Marsch“ aufzustacheln. Auf die sonst hochgerüsteten und waffenstarrenden Sicherheitskräfte, die an diesem Tag die kaum vorhanden waren. Auf eine Menge, die die ca. 500 Meter zwischen Versammlungsort und Kongress leicht überwand, sich gegen die wenigen und meist schlecht ausgerüsteten Beamt:innen durchsetzte und die heiligsten Hallen des US-Staates stürmte. Und dabei noch auf alles eindrosch, was sie für Gegner:innen hielten: auf Presse und „Antifa“.
Wer stürmte das Kapitol?
Eine Menge, die aus organisierten rechten Milizen sowie bürgerlichen Moms and Pops während des größten Abenteuer ihres Lebens bestand. In der sich Angehörige von Polizei und Armee sowie Abgeordnete befanden, Instagram-Verschwörer:innen und organisierten Neo-Nazis. Und in der viele glaubten, einem Kreuzzug gleich im Auftrag des Guten unterwegs zu sein und daher alle Mittel zur Bekämpfung der Gegenseite legitim seien. Und in den waffenstarrenden USA hätte es noch sehr viel blutiger ablaufen können.
Offene Mobilisierung eines Coup und eine überraschende Polizeitaktik
Angekündigt war die Aktion nicht nur im Geheimen, sondern auch über öffentliche einsehbare Netzwerke wie Parler. Weshalb die Sicherheitskräfte nicht verhinderten, dass der vornehmlich weiße Mob eines der wichtigsten US-amerikanischen Regierungsgebäude stürmen konnte, wird von verschiedenen Stimmen nun auf die ungleiche Sicht der Sicherheitskräfte auf linke und rechte Demonstrant:innen und die ebenfalls divergierende Sicht auf weiße und nicht-weiße Teilnehmer:innen zurückgeführt. Ein Problem, dass bei weitem nicht nur in den USA besteht, wie auch Beispiele aus Deutschland zeigen.
Bilder und Videos, die während der Stürmung aufgenommen wurden – denn auch hier galt bei den meisten wohl der Grundsatz „Was du nicht gefilmt oder fotografiert hast, ist nicht passiert“ – zeigen einen großen Teil der Menge in Kirmesstimmung, während nebenan Sicherheitskräfte vermöbelt werden. Sie zeigen Menschen, die sich benehmen wie beschickerte Teenager, die als Mutprobe in ihre Schule einbrechen, zusammen mit Vermummten in militärischer Ausrüstung, die sich mit der antrainierten Geschmeidigkeit ausgebildeter Kämpfer:innen durch die Räume bewegen.
Kapitol und Reichstag
Abgesehen von den letztgenannten ist es eine ähnliche Mischung, wie sie auch auf den hiesigen „Hygiene“- oder „Corona-Demos“ zu sehen ist: Neben Leuten, die sich über die Einschränkungen ihres Lebens Sorgen machen (und denen es leider egal ist, mit wem sie demonstrieren), organisierte Neonazis, durchgeknallte Esoteriker:innen, gerne in Kostümen, die auf SocMe-Meldungen hübsch machen und geleitet von gewissenlosen Geschäftstreibenden, die mit der geschürten Wut der Anwesenden viel Geld machen. Und die von Leuten im Parlament unterstützt werden. Und die sich, hier wie in den USA, als die letzten Kämpfer:innen für ihre Version von „Freiheit“ halten.
Kampf um die Symbole
Der Sturm auf die Symbole der alten Macht hat eine große Kraft für die Beteiligten und das Publikum. Wenn dies gelingt, ist es ein Erfolg für jede Bewegung. Die Bilder von Reichsflaggen und anderen rechten Symbolen auf den Stufen des Reichstags oder dem Verfolgen Abgeordneter durch eingeschleuste AFD-Fans sind den meisten wohl noch im Gedächtnis. Die Bilder von US-Abgeordneten, die hinter provisorisch verbarrikadierten Türen Schutz suchend auf dem Boden kauern, gingen nun um die Welt. Und von diesem „Erfolg“ werden die Rechten jahrelang emotional zehren können.
Meinungsfreiheit in kommerziellen Netzwerken?
Nachdem der US-Präsident seine SocMe-Macht während der Stürmung nicht nutzte, um die Menge vom Kapitol abzuziehen, wurden ihm nacheinander die Konten der einflussreichsten westlichen SocMe-Dienste gesperrt. Einem Präsidenten, der besonders Twitter wichtiges Machtmittel genutzt hatte, wurden die Sprachrohre genommen.
Darf einem US-Präsidenten das Maul verboten werden, fragten dann viele. Dabei hat man seiner Meinungsfreiheit schon selbst den Hals umgedreht, als man die AGB bestätigt hat. Und es ist eine Frage, die etwas am zentralen Punkt vorbei schrabbt: It’s capitalism, baby. Twitter ist ein privatwirtschaftlich geführtes Unternehmen, keine von einer Weltgemeinschaft genossenschaftlich geführte gesellschaftliche Infrastruktur, die die Verpflichtung hat, allen Menschen der Welt Zugang zu Informationsaustausch zu bieten. Twitter hat allgemeine Geschäftsbedingungen, kurz AGB genannt, zu denen die Nutzer:innen zustimmen müssen, genau wie bei ZOOM, Apple, Facebook und all die anderen. Und wer dagegen verstößt, der fliegt raus. Das passiert täglich tausendfach. Und aus sehr viel kleineren Gründen, die meist noch nicht einmal mitgeteilt werden. Das Problem mit den SocMe-Netzwerken ist nicht, dass sie eine:n Ausschließen können, sondern, dass wir uns in große Abhängigkeiten ihnen gegenüber begeben haben und Alternativen meist nicht genutzt werden.
Abhängigkeiten von privat beherrschter digitaler Infrastruktur
Das Beispiel von Parler, einem aus dem rechten Spektrum gegründeten Microblogging-Dienst, der sich jahrelang unangetastet als Hass-Schleuder und Dynamo betätigte, zeigt aber auch sehr hübsch die Macht der großen Tech-Firmen: Wenn Apple und Alphabet/Google ein Programm aus ihren Online-Vertriebswegen ausschließen, aber besonders, wenn Amazon bzw. seine Tochter Amazon Web Services (AWS), seine Server nicht mehr zur Verfügung stellt, ist es zumindest erst einmal aus. Oder der Dienst ist komplett weg vom Fenster.
Aber Amazons AWS beherbergen nicht nur rechte Hass-Schleudern, sondern auch (natürlich nebenher nutzer:innendatensaugende) Unterhaltungsangebote wie Netflix und: staatliche Infrastruktur. Die CIA ist bei AWS und die deutsche Bundespolizei etwa speichert dort Überwachungsbilder. Der Umgang mit Parler zeigt vor allem eines: Wem Amazon die Lichter ausknipst, der:die:das hat ein riesiges Problem.
Allmächtige Datenkraken?
Datenkraken sind aber nicht irgendwann aus dem All auf die Erde gefallen und haben mit Waffengewalt all diese Macht an sich gerissen: Sie haben sich als Rattefänger fröhlich an Staaten und Individuen gewandt und einfach alle eingetütet, die die AGB nicht lasen und einfach akzeptierten. Oder im Fall der Server einfach ein paar Öre sparen wollte.
So und durch mangelnde oder mangelhaft angewandte Gesetze und eine Gesellschaft, in der Datenschutz keinen großen Stellenwert hat, konnten die GAFAM (Google, Apple, Facebook Amazon und Microsoft) im Westen erst so groß werden.
Ein Leben abseits von diesen Giganten zu führen, wird immer schwieriger. Die AGB zu verstehen, auch.
Facebooks neue AGB
Gerade erst setzt Facebook den Nutzer:innen seiner Dienste wieder die getarnte Pistole auf die Brust: Entweder Sie stimmen den neuen AGB zu, oder Sie sind demnächst weg vom WhatsApp-Fenster. Sehen Sie es als Befreiung: Auch andere Firmen haben schöne Kinder. Signal bietet auch verschlüsselte Kommunikation für Wischcomputer an. Und das aus Überzeugung und durch Spenden und Zuwendungen finanziert. Und bei Signal machen Sie sich im Gegensatz zu WhatsApp auch nicht strafbar, weil sie der Applikation erlaubt haben, all Ihre gespeicherten Kontakte zu kopieren, ohne dass Sie die Personen gefragt haben. Datenschutzrechtlich legal ins neue Jahr…
Die Macht der Tech-Monopole ist eine Gefährdung
Die Macht der Technologiekonzerne und ihre Geschäftsmodelle, die auf Kontrolle durch Spaltung und Manipulation beruhen, gehören zu den größten Gefahren für freie Gesellschaften. Dabei gäbe es Gesetze, mit denen diese mächtigen Monopole zerschlagen werden können. Sie werden nur nicht angewendet.
Was kann jede:r Einzelne:r von uns tun?
- Die AGB lesen.
- Freie Software benutzen.
- Monopole wann immer es geht umgehen.
- Mit anderen über diese Dinge reden.
- Ein Recht auf analoge Teilhabe auf die Beine stellen.
- Dafür verschiedenen Ebenen dafür sorgen, dass mächtige Tech-Konzerne nicht noch mehr Macht bekommen.
Was bleibt noch zu sagen? Digitale Abhängigkeiten müssen bekämpft werden. Dafür brauchen wir auch dringend ein Recht auf ein analoges Leben.
Und, um einen beliebten Trick der klassische Rhetorik aus dem Kasten zu zaubern: Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Datenkraken zerschlagen werden müssen und das Faschismus keine Meinung, sondern ein Verbrechen ist.
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