Vorratsspeicherung ist eine immer wiederkehrende Forderung von sogenannten Sicherheitspolitiker:innen – und eine Standardmaßnahme in Autokratien. Und, wie die Weihnachtskekse ab September, immer wieder aktuell – nur sehr viel gefährlicher.
Ergänzungen 07. Oktober 2022 siehe unten
Die Vorratsspeicherung, also die anlasslose Speicherung von sehr persönlichen und aussagekräftigen Daten, bedeutet in erster Linie die Umkehrung der Unschuldsvermutung. Anders als den Grundsätzen liberaler Demokratien folgend, sind Bürger:innen durch die Vorratsdatenspeicherung folglich nicht mehr unschuldig, bis eine Schuld bewiesen wird, sondern verdächtig und zu überwachen.
Vorratsdatenspeicherung wird immer wieder gefordert
Über die Vorratsdatenspeicherung wurde in der Vergangenheit viel gestritten und auch dagegen geklagt. Bekannte Beispiele sind die Klagen von Freiheitsliberalen aus der FDP wie Burkhard Hirsch sowie eine Vielzahl an Stellungsnahmen von Datenschutzgruppen wie des Chaos Computer Clubs CCC, des Forums InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung FIfF und der Gesellschaft für Informatik. Zur Zeit wendet sich unter anderem der Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat) in einem offenen Brief gegen die aktuellen Pläne der derzeitigen deutschen Bundesregierung.
Demokratisch äußerst fragwürdige Maßnahmen
Denn diese Pläne sind absolut ernstzunehmen und einer gesellschaftlichen Diskussion wert. Denn neben der Klarnamenregistrierung und dem Verbot von Verschlüsselungstechnologien handelt es sich bei der Vorratsdatenspeicherung um Maßnahmen mit hohem Potential für und um Grundsteine von digitalen Autokratien. Zentrale Argumente ihrer Befürworter:innen sind sexualisierte Gewalt an Kindern oder Terrorabwehr. Auch wenn diese noch so schwerwiegend scheinen, so handelt es sich bei der Vorratsdatenspeicherung um kein probates Werkzeug gegen diese sozialen Probleme. Viel eher handelt es sich dabei um Argumente, die gleich einer moralische Ramme die Gegner:innen solcher Maßnahmen ins ethische Abseits drängen – und in letzter Konsequenz, als Beschützer:innen von Täter:innen darstellen.
Wahrnehmung anderer Möglichkeiten
Dass Vorratsdatenspeicherung kein probates Mittel zum Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt darstellt, wurde in der Vergangenheit von verschiedensten Seiten belegt. Zudem zeigen aktuelle Recherchen, dass viel zu wenig getan wird, um zur Zeit existierende Bilder und Videos von sexualisierter Gewalt, auch an Kindern, zu beseitigen. Dies zeigen unter anderem die Recherchen von Panorama, dem Spiegel und FUNK. Auf Netzpolitik wurde eine Zusammenfassung der Recherchen schon im Januar 2022 veröffentlicht.
Gesellschaftliche Probleme sind nicht technologisch lösbar
Sexualisierte Gewalt, in der jetzigen deutschen Sprache seltsamer Weise als „Missbrauch“ bezeichnet, was intendiert, dass es einen korrekten „Gebrauch“ gäbe, ist ein Verbrechen. Aber es handelt sich hierbei um nichts, was durch eine Aufweichung oder Auflösung von Datenschutz und mehr Überwachung gelöst werden kann. Es ist ein soziales Problem.
Sexualisierte Gewalt ist im allergrößten Teil der Fälle ein Verbrechen im Kreis von Familie und engen sozialen Gruppen wie Sportvereinen. Das in TV und Literatur und Boulevardmedien so gerne angeführte von Fremden entführte Kind oder die überfallene Joggerin im Park sind Ausnahmen und nicht die Regel. Zudem sind auch Männer von sexualisierter Gewalt betroffen.
Dass die Betroffenen die Täter:innen meist kennen und sich oft genug in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihnen befinden, macht ihre Situation unglaublich schwieriger. Niedrigschwellige Angebote, die für Betroffene einfach erreichbar sind, wären ein probates Mittel der Abhilfe.
Bei sexualisierter Gewalt geht es in erster Linie um Macht, nicht um Sexualität. Zuständig für deren rechtliche Verfolgung ist die Polizei. Sie stellt dabei nicht nur eine Institution dar, durch die sexuelle Gewalt verfolgt wird, sondern, ebenso wie das Militär, auch eine, in der sexualisierte Übergriffe oft zur Normalität gehören. Es sind Institutionen, an denen Täter:innen durch Hierarchien, Korpsgeist und durch eintrainierten Gehorsam geschützt werden. Bekanntere Beispiele stammen aus den USA, aber Fälle sind in allen Ländern zu finden. Auch in Deutschland wird immer wieder über Fälle berichtet. Es ist interessant, dass mit der Polizei eine Organisation, die ihre eigenen Mitglieder wenig vor diesem Verbrechen schützt, für die Verfolgung zuständig ist. Und dass keine höhere Überwachung von Polizeistationen und Kasernen zum Schutz von Betroffenen gefordert wird.
Sexualisierte Gewalt ist ein gesellschaftliches Problem. Wie auch andere gesellschaftliche Probleme kann es nicht technologisch gelöst werden. Ein kultureller Wandel, durch den Menschen, egal welcher Herkunft und welchen Geschlechts, als wertvoll angesehen werden, kann helfen. Das schließt das Recht eines jeden Menschen ein, selbst über sich zu bestimmen und Grenzen zu setzen. Und sich Hilfe zu holen, ohne Vorwürfen ausgesetzt zu sein. Ein solcher kultureller Wandel und erreichbare Hilfsangebote können sexualisierte Gewalt besser zurückdrängen als Überwachung.
So wie Videoüberwachung nicht vor Gewalt, egal welcher Art, schützt, schützt Vorratsdatenspeicherung nicht vor sexualisierter Gewalt an Kindern. Oder, wie Benjamin Kees es in seinen Vorträgen am Beispiel von Videoüberwachung so trefflich formuliert: Jede Videoaufnahme von einer Gewalttat ist der Beweis, dass Videoüberwachung nicht vor Gewalttaten schützt.
Schritte in die falsche Richtung
Wofür sich Vorratsdatenspeicherung, Verbote von Anonymisierung und Verschlüsselung sowie andere Formen von digitalisierter Überwachung aber perfekt eignen, ist der Aufbau von autoritären Systemen und zur Unterdrückung von emanzipatorischen Bewegungen.
Unbestritten ist, dass Menschen zu unglaublich grausamen Taten fähig sind. Doch statt deswegen erneut zu versuchen, zentrale liberale Ideale wie die Unschuldsvermutung auf den Misthaufen der Ideengeschichte zu werfen, wäre die Wiederbelebung des Gedankens einer freien Gesellschaft zu befürworten. Und statt der Durchleuchtung und Speicherung der Daten eines jeden Individuums Strukturen und Kulturen, die sexualisierte Gewalt begünstigen, konsequent anzugehen. Und Hilfsangeboten für Betroffene nicht die finanzielle Unterstützungen zusammenzustreichen, sondern sie auszubauen.
Weitere Links:
Armee: Wikipedia, Guardian, New York Times
Polizei: WDR, MDR, SWR, Stuttgarter Nachrichten,
Ergänzung 07. Oktober:
Ergänzung mit altem Wissen und aktuellen Stellungnahmen:
Schon 2011 stellte die Kriminologischen Abteilung des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in einer vom Chaos Computer Club veröffentlichten Studie zur Vorratsdatenspeicherung fest, dass die Vorratsdatenspeicherung kein probates Mittel gegen sexualisierte Gewalt an Kindern ist.
14.3. Kinderpornografie
https://web.archive.org/web/20160304041513/https://vds.brauchts.net/mpi_vds_studie.pdf, S. 241f.
Ermittlungen wegen der Verbreitung und des Besitzes von Kinderpornografie wird vor allem wegen des dahinter stehenden sexuellen Missbrauchs besondere Bedeutung zugeordnet. Die Aufklärung von Fällen sexuellen Missbrauchs anlässlich von Ermittlungen wegen Kinderpornografie ist aber allenfalls Zufallsprodukt. Es ergeben sich ferner keine Anhaltspunkte dafür, dass kommerzielle Webseiten in die Herstellung von Kinderpornografie maßgeblich eingebunden sind. Angesichts der in die Auswertung von Datenträgern investierten Ressourcen und angesichts der
besonderen Betonung der Bedeutung der Verfolgung der Kinderpornografie für die Vorbeugung von sexuellem Missbrauch dürfte sich schließlich die Frage stellen, ob
die hier verausgabten Mittel nicht besser in anderen Maßnahmen zur Prävention und Repression des Kindesmissbrauchs platziert worden wären.
Ebenso lohnend ist die von Frank Rieger und Constance Kurz vom CCC verfasste Studie von 2009.
Aktuell hingegen die Stellungnahmen der Gesellschaft für Informatik und des Europaabgeordneten Patrick Breyer sowie die Zusammenfassung im GI Radar.